Die Kraft des Waldes
Entspannen im Grünen: Was nach Feierabend klingt, unternehmen Mitarbeiter inzwischen auch in ihrer Arbeitszeit – mit überraschendem Ergebnis.
Arbeit & Gesundheit
Festes Schuhwerk, Regencape und drei Stunden Zeit – mehr brauchen die Angestellten der Versicherungsagentur nicht, die Wolfgang Seger raus aus den vier Bürowänden rein ins nächstgelegene Waldstück führt. Auch das Smartphone bleibt am Arbeitsplatz zurück. Seger ist Waldtherapeut und bietet seit 2018 Seminare zum Waldbaden an. Baden im Wald? Was nach Abkühlung klingt, hat mit Wasser erst mal nichts zu tun. „Ich zeige Mitarbeitern, wie sie Stress abbauen können“, sagt Seger. „Dabei helfen zum Beispiel Entspannungsübungen, die an der frischen Luft wirksamer sind, als wenn sie drinnen durchgeführt werden.“
Ausgedehntes Waldbad
Der Wald als Seminarraum im Grünen? Angebote wie Progressive Muskelentspannung und Autogenes Training bietet Seger schon länger an. Doch im Forst finden die Entspannungsübungen eine stärkere Resonanz. „Vielen Menschen fällt es schwer, in Arbeitsplatznähe abzuschalten“, erklärt Seger. Auch fehle dort die sinnliche Erfahrung, die fast magische Atmosphäre des Waldes, wo es würzig nach Holz duftet, das Licht milde durch die Baumkronen schimmert, die Blätter rascheln und der Boden unter den Füßen federt. Nicht ohne Grund empfinden viele Menschen einen Waldspaziergang als beruhigend, können abschalten und auftanken.
Ich zeige Mitarbeitern, wie sie Stress abbauen können.
Der Wald als Ruhe- und Erholungsort erlebt eine Renaissance und er ist für alle da. Mit etwa 32 Prozent Waldfläche ist Deutschland das baumreichste Land der Europäischen Union. Rein rechnerisch stehen jedem Deutschen somit rund 1.300 Quadratmeter Wald zur Verfügung. Der ausgedehnte Naturbesuch ist für manchen Großstädter dennoch eine ungewohnte Erfahrung – und eine Wiederentdeckung der Langsamkeit. „Wir leben in einer beschleunigten Welt, die auf Optimierung und Effizienz ausgerichtet ist. Beim Waldbaden bekommen wir die Erlaubnis, auf die Bremse zu treten und auch mal wieder herumtrödeln zu dürfen.“ Hier eine vermooste Eiche, dort ein umgestürzte Tanne, da ein Ameisenhügel … Es geht um das bewusste Wahrnehmen der grünen Umgebung und der eigenen Person. Der Wald liefert einen fruchtbaren Boden für jegliche Art von Stressabbau.
Therapie unter Tannen
Doch zeigt das Walderlebnis auch eine medizinische Wirkung? Die positiven Effekte der grünen Lunge belegen Studien japanischer Wissenschaftler. Sie zeigen, wie sich der Blutdruck reguliert, die Immunabwehr verbessert und die Konzentration des Stresshormons Cortisol sinkt. In Japan hat die Lehre Shinrin Yoku (zu Deutsch Waldtherapie) auch ihren Ursprung. Waldluft gilt als natürlicher Heiltrank. Seit 2012 wird Waldbaden sogar als eigene medizinische Fachrichtung angeboten. Auch in Europa haben Forscher die positive Wirkung des Waldes erkannt. Bereits in den 80er-Jahren sorgte eine schwedische Studie für Aufsehen, der zufolge Patienten schneller gesund werden, wenn sie vom Krankenbett ins Grüne schauen. Die Kranken benötigten zudem weniger Schmerzmittel.
Erholung im Schneckentempo
Wolfgang Seger stammt aus einer Familie von Förstern und Jägern, hat neben Betriebswirtschaft auch Forstwirtschaft studiert. Die Ausbildung zum Waldtherapeuten ist eine Reise zu seinen Wurzeln. Und auch die Teilnehmer finden zurück zu ihren Anfängen: „Gehen wir in den Wald, dann kehren wir dorthin zurück, wo wir herkommen. Unsere Vorfahren haben einst Tag und Nacht zwischen Bäumen gelebt. Die Natur ist sozusagen unser evolutionäres Zuhause und vermittelt uns auch heute noch ein Gefühl von Heimat, Geborgenheit und Sicherheit.“ Das zeigt auch das Feedback der Teilnehmer, die oft erst mal forsch und zielstrebig loslaufen und dann Schritt für Schritt runterfahren. Selbst anfängliche Skeptiker kehren nach den drei Stunden entschleunigt und erfrischt an den Arbeitsplatz zurück. Und was hält der Chef von der verlängerten Pause? „Im besten Fall hat er die Maßnahme angestoßen und ist selbst mit von der Partie“, freut sich Seger.
Schon gewusst?
Mindestens 2,5 Stunden sollte ein Waldbad dauern, dann ist der Anteil weißer Blutkörperchen um ca. 25–30 Prozent angestiegen – ein Effekt, der übrigens mehrere Tage anhält. Weiße Blutkörperchen sind natürliche Killerzellen, die Bakterien, Viren und sogar körpereigene Krebszellen angreifen.
Diesen Artikel teilen