Immer erreichbar – digitaler Stress und Homeoffice
Was ist zuerst da? Die ständige Erreichbarkeit oder Erreichbarkeitserwartung? Welche Rolle digitaler Stress und Homeoffice bei diesen Fragen spielen, erklären Prof. Dr. Laura Venz, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg, und Hye-Jung Chung, Arbeitspsychologin bei der ias-Gruppe.
Homeoffice
Homeoffice lädt zu Mehrarbeit ein
Das Homeoffice ist gekommen, um zu bleiben. Und mit ihm der Durchbruch der digitalen Arbeitswelt. Der Digitalisierungs- und Flexibilisierungsschub, der in den vergangenen Pandemiejahren in Gang gesetzt wurde, hat wiederum für viele Erkenntnisse gesorgt. Mittlerweile haben viele Unternehmen anerkannt, dass Mitarbeitende im mobilen Arbeiten, Homeoffice, bei der Telearbeit oder durch Remote Work nicht weniger produktiv sind. Im Gegenteil: Eine Befragung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) aus dem Sommer 2022 wies sogar auf, dass 28 Prozent der Heimarbeitenden oft unbezahlte Überstunden leisten und viele weniger Pausen machen, was zu höherer Produktivität, aber eben auch zu einer höheren Belastung führt.
„Wir konnten bereits vor der Pandemie beobachten, dass es große Veränderungen im Belastungs- und Beanspruchungsprofil von Erwerbstätigen durch den Einsatz digitaler Technologien gab“, sagt Hye-Jung Chung, Arbeitspsychologin bei der ias-Gruppe. „Die potenzielle Folge: digitaler Stress bzw. Technostress, unter dem die Gesundheit leidet. Wir haben im Rahmen des Projekts PräDiTec (Prävention für sicheres und gesundes Arbeiten mit digitalen Technologien) in einer Studie erhoben, dass Personen, die starkem digitalem Stress ausgesetzt sind, sich als kränker einschätzen, weniger leistungsfähig und unzufriedener mit ihrer Arbeit sind und häufiger ihre Arbeitsstelle wechseln wollen.“
Freiheit und Entgrenzung sind zwei Seiten einer Medaille
Wie kommt das? Der virtuelle Raum fördert, erfordert aber auch die selbstorganisierte Arbeit. Denn mit der Freiheit kommt auch die Entgrenzung. Viele Arbeitende haben noch nicht gelernt, sich selbst zu steuern. Was für die einen mehr Flexibilität, kürzere Fahrtwege und eine bessere Work-Life-Balance bedeutet, löst bei anderen unter Umständen Überforderung aus.
Die Herausforderung, Arbeit so zu organisieren, dass der Einsatz digitaler Systeme psychische Fehlbeanspruchungen vermeidet, ist beim mobilen Arbeiten noch größer geworden
Erreichbarkeitserwartung unter der Lupe
Mögliche Ursachen von Fehlbeanspruchung und Überstunden im Homeoffice betrachtete Prof. Dr. Laura Venz, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg, in einer noch nicht veröffentlichten Studie. In dieser lenkt sie den Blick auf den Zusammenhang von Erreichbarkeitserwartung im Homeoffice und Überstunden. Ihre Forschungsthese: Der Wechsel ins Homeoffice war für viele Mitarbeitende mit Unsicherheit verbunden. Viele wollten sich nicht nachsagen lassen, dass sie weniger arbeiten. „Dadurch entsteht ein Mechanismus, in dem sich Mitarbeitende über ihre Arbeitszeit hinaus verfügbar machen, obwohl die Erwartung an Verfügbarkeit nicht wirklich von außen da ist. Die Ergebnisse zeigen, dass allein die gefühlte Erreichbarkeitserwartung ausreicht, um Beanspruchung und mangelnde Erholung zu steigern.“
Dem Stereotyp zum Trotz: Altersvorteil bei der Digitalisierung
Bei der Frage danach, welche Handlungsempfehlungen sich daraus für Unternehmen, Führungskräfte und Teams ableiten lassen, lohnt sich ein Blick auf die anderen Studien von Laura Venz. Ihrer letzten Publikation „Always on Call: Is There an Age Advantage in Dealing with Availability and Response Expectations?“ lag die These zugrunde, dass entgegen dem gängigen Stereotyp ältere Mitarbeitende einen Vorteil haben, wenn es darum geht, sich in Anbetracht hoher Erreichbarkeitserwartungen psychologisch von ihrer Arbeit zu lösen und Reaktionserwartungen adaptiver zu begegnen. Das Ergebnis fasst die Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie zusammen: „Wir konnten sehen, dass ältere Mitarbeitende weniger Telepressure, einen internen Druck, erreichbar zu sein, verspüren. Dadurch gehen sie angemessener mit den Anforderungen durch die digitale Arbeitswelt um. Konkret heißt das, dass sie nur dann schnell auf E-Mails reagieren, wenn das wirklich notwendig ist. Bei Jüngeren entsteht im Vergleich ein ungünstiger Kreislauf. Sie können schlechter entscheiden, was unwichtig ist, antworten schneller auf alle Nachrichten und bekommen dadurch noch mehr E-Mails, sie bauen den externen Druck und die Erwartung quasi mit auf.“
Kommunikation ist der Schlüssel
Was können Unternehmen für ihre Mitarbeitenden tun, um sie zu unterstützen? „Auch Medienkompetenz, also der gesunde und kompetente Umgang mit digitalen Technologien und Medien, braucht Förderung durch Führungskräfte und Unternehmen“, sagt Hye-Jung Chung. „Ein Unternehmen kann nicht davon ausgehen, dass die Mitarbeiter geübt sind, selbstverantwortlich digital zu arbeiten. Die Mitarbeiter müssen reflektieren lernen: „Was tue ich hier eigentlich?“, „Ist die Art, wie ich gerade arbeite, gut, sinnvoll und gesund für mich und andere?“ Erlernt werden muss auch, zu realisieren, was konkret überfordert.“
Dies deckt sich mit dem Fazit, das Laura Venz aus ihrer aktuellen Studie zieht: „Es reicht nicht, die Mitarbeitenden in ihrer Freizeit nicht zu kontaktieren. Stattdessen muss es klare Erwartungen und Normen zu Erreichbarkeit und Nicht-Erreichbarkeit geben, die deutlich formuliert sind. Das ist besonders dann wichtig, wenn das Arbeitspensum hoch ist und die Mitarbeitenden von zu Hause aus arbeiten.“
Es reicht nicht, die Mitarbeitenden in ihrer Freizeit nicht zu kontaktieren. Stattdessen muss es klare Erwartungen und Normen zu Erreichbarkeit und Nicht-Erreichbarkeit geben.
Die andere Seite der Medaille
„Es ist wichtig, dabei im Blick zu behalten, dass wir alle uns darin unterscheiden, was für uns gut oder schlecht ist“, betont Laura Venz. „Für einige kann die neue Flexibilität der Schlüssel zur Zufriedenheit sein, weil sie ihnen beispielsweise erlaubt, sich vom klassischen 8-Stunden-Tag zu lösen, nachmittags stattdessen Familienzeit zu verbringen und dafür abends noch einmal zwei Stunden E-Mails zu checken.“ Dabei gelte es, genau darauf zu achten, wann Überstunden beginnen und diese zu vermeiden. Außerdem ist auch hier die richtige Kommunikation wichtig, um Erwartungshaltungen und Normen klar zu formulieren. „Wenn um 21:00 Uhr noch E-Mails verschickt werden, entstehen Fehlannahmen und Vorbilder im Team. Dem kann leicht entgegenwirkt werden, indem der Sendende direkt mitkommuniziert „Ich schicke abends um neun noch E-Mails, weil das für mich gut passt, aber ich erwarte dann keine direkte Antwort“. Gleiches hilft auch, um die Erreichbarkeitserwartung zu durchbrechen: Einfach in jede Kommunikation einbauen, ob die Antwort dringend benötigt wird oder Zeit hat oder sogar zu einem bestimmten Zeitpunkt erst gebraucht wird, kann einen Unterschied beim Stresslevel des Empfängers machen, besonders da wir dazu tendieren die Dringlichkeit von E-Mails zu überschätzen.“
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